Wahrhaftigkeit entsteht aus dem Moment
Prozessorientierte Methodik aus der
phänomenologischen Bewusstseinsschule
Damit eine prozessorientierte Arbeit gelingen kann, braucht es – neben einer vielfältigen fachlichen Kompetenz – Liebe und Wahrhaftigkeit.
Und diese erwähnte und notwendige Vielfältigkeit ergibt sich meist aus dem Werdegang der prozessbegleitenden Personen, die wir durchaus „Weisende“ nennen können. Weisende eines Weges durch Weisheit. Die Vielfalt entsteht aus dem langen Weg, der Erfahrung und der intensiven Schulung verschiedenster Ansätze. Dabei bleiben Weisende niemals bei einem Ansatz, sondern entwickeln sich von einem Expertenwissen zum anderen. Zu Beginn des Weges steht die Weitergabe nicht in ihrem Fokus, sondern die Individualisierung ihres persönlichen SELBST im Dasein. Nur das ist der Antrieb. So entwickelt sich die Weitergabe langsam und wird meist erst nach vielen Jahren der Selbstschulung sichtbar und findet allmählich im Außen einen Ausdruck. Die Essenz der Vielfalt und deren leibhaftige Integration führen in den Raum der Wahrhaftigkeit, in dem die Liebe die Leitschnur für die Momenterfahrungen von Bewusstsein ist.
„Das Ausmaß, in dem ich Beziehungen aufbauen kann, die das Wachstum anderer als unabhängige Personen erleichtern, ist ein Maß für das Wachstum, das ich in mir selbst erreicht habe“.
(Carl Rogers)
Und Liebe bedeutet hier: die uneingeschränkte Liebe zu den höchst komplexen und durchweg individuellen Lebensgeschichten der Menschen, die sich durch Gleichmut, Wohlwollen, Mitgefühl, Toleranz zu allen Menschen und deren Schicksalen, ausdrückt.
Wahrhaftigkeit bedeutet hier: die Wahrnehmung dessen, was JETZT ist, ganz gleich in welche Abgründe oder Höhen dies führen mag, ohne jegliche Form von geistiger oder körperlicher Wertung oder Verknüpfung. Ein Sehen auf das was ist, aufrecht und standhaft sein, nichts hinzufügen, nichts verdecken, nichts bewerten, nichts beschönigen oder abmildern, nichts verändern, nichts entlasten, nichts belasten. EINFACH SEIN.
Alle Methoden, wie auch alles fachliches Wissen, sind die Basis für eine seelisch-geistige und körperlich-orientierte Prozessarbeit. Doch entfalten sie ihre tatsächliche Wirkungskraft erst dann, wenn Liebe und Wahrhaftigkeit die Grundlage der Anwendung sind. Die innere Haltung einer gesellschaftlich propagierten Moral, einer irgendwas oder irgendwem unterliegenden moralisierenden Ethik sowie die individuellen Werte des Anwenders, Therapeuten und Experten sind hingegen prozessverhindernd. Sobald diese ins Spiel kommen, ist der innere Kompass, eine lebensbejahende und universelle innere Ethik, bereits verloren. Wer mit seinem menschlichen Wesen verbunden ist, wer seinen Klienten mit absoluter Offenheit und innerer Wahrhaftigkeit begegnet, verlässt sich nicht auf die von der Gesellschaft benannten Werte, sondern er lässt sich in die Offenheit des seelisch-geistigen Raumes fallen. Hier weiß der/die Leitende des Prozesses, in welchem inneren Bereich er/sie sich befindet, und erkennt aus einer tiefen Sicherheit heraus, welchem Impuls zu folgen ist. Und weiß auch, dass manchmal etwas geschieht, das scheinbar jeder gesellschaftlich moralisierenden Ethik und den daraus abgeleiteten Verhaltensweisen zu widersprechen scheint und das in manchen Fällen auch tatsächlich der Fall ist.
Diese Art der mitfühlenden Prozessarbeit erlernt man leider bis heute noch nicht an Universitäten oder auch nicht an den meisten herkömmlichen Ausbildungsorten. Es ist immer noch so, dass die Methoden den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft folgend gelehrt und vermittelt werden. So erkennen wir nach vielen Jahren der gesellschaftlich anerkannten Psychologie, dass wir weit entfernt sind von Liebe und Wahrhaftigkeit. Vielmehr haben wir den Eindruck, überall anzukommen, nur nicht bei uns selbst. Durch den gezielten Blick auf Lösung oder die Behebung von unliebsamen Charakter- oder Prägungsmerkmalen haben wir uns der Einteilung in Krank und Gesund oder Gut und Böse, positiv oder negativ, unterworfen. Und diese einseitig theoretische Vorgehensweise schließt bislang alle psychotherapeutischen und psychologischen sowie die medizinisch-neurologischen Ausbildungen und auch die meisten Coaching-Trainings mit ein. Wir schaffen Teile und teilen uns damit selbst, um uns dann in der Folge von Therapie zu optimieren, zu heilen und uns ganz und gar zu verändern, um möglicherweise eine völlig neue und erdachte Person zu werden. So wie wir sind, können wir auf keinen Fall bleiben. Unsere größte Sehnsucht ist es jedoch nur zu „werden wer wir schon immer sind“. Doch tragischer Weise reißen wir uns dabei selbst in Stücke, und andere sollen uns wieder zusammensetzen. Wie soll das gehen? Bei Licht betrachtet ein im Grunde unmögliches Unterfangen. Doch die Zahl derer, die sich das Zusammensetzen anderer auf die Fahne schrieben, ist erstaunlich groß.
Der Umgang mit Liebe und Wahrhaftigkeit in der Prozessarbeit ist jedoch nur sehr schwer vermittelbar, da er während eines tiefen inneren Prozesses gleichzeitig im Klienten und in der prozessbegleitenden Person entsteht. Auf keinen Fall sind solche Prozesse vorhersehbar oder haben Rückbezüglichkeiten auf andere oder ähnliche Prozesse von anderen Klienten. Prozesse, die aus dem Raum von Liebe und Wahrheit entstehen oder geführt werden, sind einmalige Seeleneinblicke in das jeweils ganz individuelle Geschehen. Ein Blick in die Geheimnisse des DASEINS eines anderen. Dies nenne ich einen heiligen Moment.
Wir wissen nicht, was sich tatsächlich zeigen wird und in welchem Zusammenhang es möglicherweise mit dem aktuellen Ansinnen des Klienten steht. So können wir ganz woanders herauskommen und das eigentliche Problem ist plötzlich ein völlig anderes als zuvor angenommen. Die prozessorientierte Arbeit ähnelt oft einem Rätsel und es kann sich auf körperlicher oder geistiger Ebene abspielen. Es ist schlussendlich die Summe verschiedener Impulse, die den Prozess in Gang setzen und die ihn auch zu Ende führen. Wir benötigen viel Geduld und Vertrauen, um einen solchen Prozess zu eröffnen und ihn zu halten, bis er sich von selbst wieder verschließt. Manches erkennen wir, vieles auch nicht. Es sind immer wieder Momente der Öffnung und der Schließung. Wie lange diese Fenster sich öffnen oder verschließen ist völlig ungewiss. Jede Menschenseele oder Bewusstseinsebene öffnet sich erst dann, wenn ein Raum der Unvoreingenommenheit entsteht. Wenn sich jegliche Wertung in eine vorurteilsfreie Offenheit der Liebe verwandelt hat. Nur so kann uns die eigene innere Wahrheit aus dem Raum der absoluten Offenheit entgegenkommen. In einem derart geführten Prozess öffnet das Seelisch-Geistige auch die Begleitenden. Ein weiterer und wichtiger Punkt ist, dass die Begleitenden sich berührbar, präsent und voll anwesend zeigen. Erst in dieser Kommunion von Begleitenden und Klienten, zeigt sich dem Klienten seine verborgene seelische Wahrheit. Sie steigt empor an die Oberfläche, um hier als seine tatsächlich eigene innere Wahrheit wahrgenommen und empfunden werden zu können. Für einen Augenblick oder Moment entsteht ein Kontakt mit der Selbst- oder Eigenliebe, in dem wir wahrhaftig sind. Wir spüren die Verbindung zwischen dem, was geschieht, und dem, der das Geschehene spüren und sich davon berühren lässt. Diesen Kontakt nennen wir auch die innere Selbstberührung oder den Selbstkontakt. Etwas, das von uns getrennt war, etwas in dem das Getrennte angenommen und integriert wird.
Begleitender und Klient bewegen gemeinsam den Raum von Liebe durch die wahrhaftige Anwesenheit dieses Augenblicks. Für den Raum der Liebe heißt das, sich dem anderen offen und zugleich ohne Urteil zu begegnen; In der Lage sein, ihn in seiner Wirklichkeit, so wie er nun mal ist, anzunehmen und zu akzeptieren; dass der Begleitende alles ganz an sich heranlassen kann, selbst dann, wenn das, was da entgegenkommt, ihn selbst zutiefst zu erschüttern vermag; und diese Erschütterung ohne jegliche innere Erregung ablaufen kann – und auch in keiner Weise einer möglichen inneren oder äußeren Empörung oder Erregung des Klienten, folgen wird.
Liebe heißt hier in keinem Fall, eine emotionale Verbindung einzugehen, ganz gleich, ob es sich hierbei um eine Täter- oder Opferrolle handelt. Die persönliche Wahrheit die sich in diesen Prozessen zeigt wird, klar und unverblümt ausgesprochen. Die Klarheit dessen was sich zeigt, darf nicht verstellt werden. Sie kann nur dann angenommen werden, wenn sie ist, wie sie ist. Daseinserfahrungen sind dann gelungen, sobald Prozesse, die aus inneren Verblendungen führen und vom Klienten selbst auch als Verblendungen wahrgenommen werden können. In genau diesem Moment der Ent-blendung oder Ent-täuschung, erkennt er/sie sich als „ICH BIN SELBST“ und ist für Augenblicke wahrhaftig. Eine zutiefst emotional und erstaunlich entlastende Situation. Da die Ursachen all unserer inneren Verstrickungen immer in den ersten Jahren unseres Daseins entstehen, gehört an dieser Stelle noch erwähnt, dass zum Gelingen des Prozesses eine einfache und klare Sprache notwendig ist. Jede künstliche Sprache, die auf Fremdworte und Fachbegriffe setzt, entfernt uns vom Wesentlichen und verschleiert und entkräftet die Wucht auf Wirklichkeit.
In den letzten Jahrzehnten wurde viel Wissen und Forschung verwendet, Krankheiten und psychische Störungen zu benennen. Mittlerweile gibt es eine Palette von festen Fachbegriffen, Behandlungs- und Heilungsvorschlägen. Daraus ergibt sich parallel eine innere Therapiehaltung, in der behandeln, heilen, bearbeiten, verbessern, überwinden und transzendieren die wesentlichen Aspekte eines etwaigen Therapieerfolges sind. Dabei übersehen wir sehr leicht, mal von den schweren Krankheiten abgesehen, die Vielfältigkeit im Normalen. Und, dass das vielfältig Normale auch gleichzeitig das Individuelle ist. Neben all den tatsächlichen und sehr komplexen psychischen und physischen Krankheiten müssen wir anerkennen, dass jeder Mensch anders ist. Es gibt im Grunde keine gradlinigen Normen für Normalität, obwohl wir dazu neigen, das zu glauben. Und im festen Glauben an das, was wir als Normal ansehen, suchen wir ständig nach Lösungen für Probleme, die womöglich gar keine sind. So kreisen Helfer und Klienten ständig um das goldene Kalb, um die individuelle Neurose herum, denn Helfen und Heilen setz immer Krankes voraus. Doch vieles ist eben nicht krank, sondern individuell geprägt, und diese Prägungen benötigen mal im ersten Schritt ein liebevolles Maß an Bewusstheit.
In der prozessorientierten Arbeit gibt es daher keine TherapeutenInnen und keine HeilerInnen, denn es wird nichts geheilt oder therapiert, sondern es wird bewusst gemacht. Neben diesem Ziel muss der Prozessbegleitende in der Lage sein, aus dem inneren Raum der Ganzheit das Scheitern eines Prozesses in sich zutragen. Er ist unbedingt auch ein „Scheiternder“, der an selbst scheitern, damit etwas ganz NEUES BEWUSST wird.
Ein Blick in die Tiefen eines Momentes, eine Berührung jenseits dessen, das wir kennen, bringt uns in die Erfahrung der Wahrhaftigkeit und wir erkennen uns — in allen Dingen.